Globaler Rechtsindex des IGB 2019: Demokratiekrise und brutale Repressionen, um wütende Menschen zum Schweigen zu bringen

photo: Chris Faga/NurPhoto/AFP

Dank neuer Technologien können Arbeitgeber die Zahlung von Mindestansprüchen umgehen und Beschäftigte vom Geltungsbereich der Arbeitsgesetze ausschließen.

Die Demokratie befindet sich in der Krise. Die systematische Erosion der Grundlagen der Demokratie am Arbeitsplatz und die gewaltsame Unterdrückung von Streiks und Protesten gefährden den Frieden und die Stabilität. Das geht aus dem jährlichen Globalen Rechtsindex des IGB hervor. Zu extremer Gewalt gegen die Verfechter der Rechte bei der Arbeit sowie zahlreichen Verhaftungen und Inhaftierungen kam es in Indien, der Türkei und Vietnam.

Sharan Burrow, die Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), merkt an: “Von Hongkong bis Mauretanien, von den Philippinen bis zur Türkei, überall versuchen die Regierungen, wütende Menschen zum Schweigen zu bringen, indem sie die Rede- und die Versammlungsfreiheit beschränken. In 72% der Länder hatten erwerbstätige Menschen keinen oder nur beschränkten Zugang zur Justiz, wobei in Kambodscha, China, Iran und Zimbabwe über besonders schwere Fälle berichtet wurde.”

“Der Zerfall des Gesellschafts- oder Sozialvertrages zwischen Arbeitnehmern, Regierung und Unternehmen hat dazu geführt, dass sich die Zahl der Länder, die Beschäftigte vom Recht auf die Gründung von oder den Beitritt zu Gewerkschaften ausschließen, von 92 im Jahr 2018 auf 107 im Jahr 2019 erhöht hat. Die größte Zunahme wurde in Europa festgestellt, wo mittlerweile in 50% der Länder bestimmte Gruppen von Beschäftigten nicht unter das Gesetz fallen, gegenüber 20% im Jahr 2018. Menschenwürdige Arbeitsmöglichkeiten werden beeinträchtigt und Rechte verweigert, weil Unternehmen die Regeln und Vorschriften umgehen.”

“Es sollten keine Beschäftigten zurückgelassen werden, weil sich ihr Arbeitgeber für ein Geschäftsmodell entscheidet, das die Verantwortung für das Beschäftigungsverhältnis verschleiert, oder weil ihre Regierung Gesetze zur Inkraftsetzung der Arbeitnehmerrechte ablehnt. Immer mehr Regierungen machen sich mitschuldig, indem sie die Ausbeutung von Arbeitskräften begünstigen, weil die Beschäftigten gezwungen werden, in der informellen Wirtschaft zu arbeiten”, so IGB-Generalsekretärin Sharan Burrow.

Angriffe auf das Streikrecht in 85% der Länder und auf das Tarifverhandlungsrecht in 80% der Länder untergraben die Rolle der Gewerkschaften. Im Tschad wurden sämtliche Streiks und Demonstrationen verboten, während in Kroatien, Georgien, Kenia und Nigeria auf Gerichtsbeschlüsse zurückgegriffen wurde, um Streiks zu unterbinden. In Europa, traditionell die tragende Säule des Rechtes auf Tarifverhandlungen, haben Unternehmen in Estland, den Niederlanden, Norwegen und Spanien versucht, die Arbeitnehmerrechte zu untergraben.

“Unternehmen, die die Arbeitnehmerrechte systematisch angreifen, sehen sich jetzt weltweiten Protesten gegenüber. Uber ist aktuell von Australien bis Südkorea, von Mumbai bis San Francisco mit Streiks und behördlichen Auseinandersetzungen konfrontiert. Beschäftigte in Logistikzentren von Amazon in Europa und den USA haben protestiert und gestreikt, und in Europa haben die Gewerkschaften für den größten Streik in der Geschichte von Ryanair gesorgt. Die Profitgier der Unternehmen mag ein weltweites Phänomen sein, aber die Arbeitnehmer werden in bisher nicht bekanntem Ausmaß gemeinsam dagegen aktiv”, erklärt Burrow.

Der Globale Rechtsindex des IGB 2019 bewertet 145 Länder anhand von 97 international anerkannten Indikatoren, um festzustellen, wo die Arbeitnehmerrechte sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Praxis am besten geschützt werden.

Einige Schlüsselergebnisse des Berichtes:

  • 85% der Länder haben das Streikrecht verletzt.
  • 80% der Länder verweigern einigen oder allen Beschäftigten Tarifverhandlungen.
  • Die Zahl der Länder, die Beschäftigte vom Recht auf die Gründung von oder den Beitritt zu Gewerkschaften ausschließen, hat sich von 92 im Jahr 2018 auf 107 im Jahr 2019 erhöht.
  • In 72% der Länder hatten erwerbstätige Menschen keinen oder nur beschränkten Zugang zur Justiz.
  • Die Zahl der Länder, in denen Beschäftigte verhaftet und inhaftiert wurden, hat sich von 59 im Jahr 2018 auf 64 im Jahr 2019 erhöht.
  • Von den 145 untersuchten Ländern verweigern oder beschränken 54 die Rede- und die Versammlungsfreiheit.
  • In 59% der Länder haben die Behörden die Zulassung von Gewerkschaften behindert.
  • In 52 Ländern waren Beschäftigte Gewalt ausgesetzt.
  • In 10 Ländern wurden Gewerkschafter/innen ermordet: Bangladesch, Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Honduras, Italien, Pakistan, Philippinen, Türkei und Simbabwe.

“Die Gewerkschaften stehen an vorderster Front eines Kampfes für demokratische Rechte und Freiheiten angesichts der unternehmerischen Profitgier, die die Regierungen derart beeinflusst, dass sie entgegen den Rechten der Menschen handeln. Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Arbeitnehmern, Regierungen und der Wirtschaft, um das Vertrauen wiederherzustellen, wenn die Menschen den Glauben an die Demokratie verlieren. Es ist an der Zeit, die Regeln neu festzulegen”, fordert Burrow.

Die zehn schlimmsten Länder der Welt für erwerbstätige Menschen sind laut Index 2019 Algerien, Bangladesch, Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Kasachstan, die Philippinen, Saudi-Arabien, die Türkei und Simbabwe.

Brasilien und Simbabwe zählen zum ersten Mal zu den zehn schlimmsten Ländern, was auf die Verabschiedung regressiver Gesetze, die gewaltsame Unterdrückung von Streiks und Protesten sowie die Bedrohung und Einschüchterung führender Gewerkschaftsvertreter/innen zurückgeht.

Belgien, Brasilien, Eswatini, Irak, Sierra Leone, Thailand und Vietnam haben angesichts zunehmender Angriffe auf die Arbeitnehmerrechte sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Praxis im Jahr 2019 ein schlechteres Ranking erhalten.

Die schlimmste Region für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer war wieder Nahost/Nordafrika, wo das Kafala-System Wanderarbeitskräfte, die überwältigende Mehrheit der Erwerbsbevölkerung, weiterhin von sämtlichen arbeitsrechtlichen Schutzmaßnahmen ausschließt, so dass 90% der Beschäftigten das Recht auf die Gründung von oder den Beitritt zu Gewerkschaften nicht wahrnehmen können. In Saudi-Arabien, wo eine indonesische Hausangestellte heimlich hingerichtet wurde, werden grundlegende Arbeitnehmerrechte noch immer vollkommen verweigert.

Die Lage in der asiatisch-pazifischen Region hat sich angesichts der Zunahme der Gewalt, der Kriminalisierung des Streikrechts und der vermehrten Angriffe auf Beschäftigte stärker verschlechtert als in irgendeiner anderen Region. Zehn Gewerkschafter wurden 2018 auf den Philippinen ermordet.

In Afrika wurden Arbeitnehmer/innen in 49% der Länder verhaftet oder inhaftiert. In Kamerun, Nigeria, Tschad, Ghana, Eswatini und Simbabwe, wo die Sicherheitskräfte mit scharfer Munition auf protestierende Beschäftigte schossen, haben die Angriffe auf arbeitende Menschen beispiellose Ausmaße angenommen.

Die gesamtamerikanische Region war weiterhin von einem allgegenwärtigen Klima extremer Gewalt und Repressionen gegenüber Arbeitnehmern und Gewerkschaftsmitgliedern geprägt. Allein in Kolumbien wurden im Jahr 2018 34 Gewerkschafter/innen ermordet, ein drastischer Anstieg gegenüber 15 im Vorjahr.

In Europa wurden Arbeitnehmer/innen in 25% der Länder verhaftet und inhaftiert. In der Türkei und in Italien wurden führende Gewerkschaftsvertreter/innen ermordet.
Der IGB sammelt bereits seit über 30 Jahren Daten über weltweite Verletzungen des Arbeitnehmerrechtes auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft und auf Tarifverhandlungen. Der Globale Rechtsindex des IGB liefert jetzt zum sechsten Mal eine einzigartige und umfassende Übersicht darüber, wie staatliche Gesetze und unternehmerische Praktiken die Situation in den letzten 12 Monaten verschlechtert oder verbessert haben.

Die drei für die Arbeitnehmerrechte relevanten globalen Trends sind laut Rechtsindex 2019 eine Demokratiekrise, Versuche der Regierungen, die Menschen im Zeitalter der Wut durch brutale Repressionen zum Schweigen zu bringen, sowie aber auch gesetzgeberische Erfolge für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

“Nach einer vierjährigen Kampagne der Beschäftigten von Dunnes Stores und von Gewerkschaftsaktivisten hat die irische Regierung ein Gesetz eingebracht, das Null-Stunden-Verträge verbietet und die Regulierung prekärer Beschäftigungsformen verbessert. Und auch in Neuseeland setzt die Koalitionsregierung die Aufhebung regressiver Arbeitsgesetze und die Wiedereinführung von Schutzmaßnahmen für Arbeitnehmer sowie die Stärkung des Tarifprozesses am Arbeitsplatz fort”, berichtet Burrow.

Der Globale Rechtsindex des IGB 2019 bewertet die Länder anhand von 97 Indikatoren, und die daraus resultierende Punktzahl entscheidet über ihr Ranking von 1-5+.

1 Sporadische Rechtsverletzungen: 12 Länder, darunter Island und Schweden.
2 Wiederholte Rechtsverletzungen: 24 Länder, darunter Belgien und die Republik Kongo.
3 Regelmäßige Rechtsverletzungen: 26 Länder, darunter Kanada und Ruanda.
4 Systematische Rechtsverletzungen: 39 Länder, darunter Chile und Nigeria.
5 Rechte nicht garantiert: 35 Länder, darunter Brasilien und Eritrea.
5+ Rechte nicht garantiert wegen des Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit: 9 Länder, darunter Palästina, Sudan, Syrien und Jemen.