Bis zum Jahresende werden die Menschen in mehr als 60 Ländern mit einer Gesamtbevölkerung von rund vier Milliarden Menschen die Möglichkeit gehabt haben, ihre Stimme bei nationalen oder regionalen Wahlen abzugeben, was es einigen Schätzungen zufolge zum größten Wahljahr aller Zeiten macht.
Einige der diesjährigen Wahlen haben bereits Wirkung gezeigt. Die Wählerinnen und Wähler haben die Macht von Indiens Premierminister Narendra Modi und Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa beschnitten. Beide mussten Koalitionen mit anderen Parteien eingehen. In Frankreich haben die Wähler eine “republikanische Front“ gebildet, um die rechtsextreme Bedrohung durch Marine Le Pens Rassemblement National abzuwehren. Und in Großbritannien wurde eine Labour-Regierung unter der Führung von Premierminister Keir Starmer gewählt, die zugesagt hat, die Arbeitnehmerrechte zu stärken, nachdem sie 14 Jahre lang unter einer konservativen Regierung geschwächt worden waren.
Die Gewerkschaften sind die größte demokratische Bewegung der Welt und befinden sich in einer einzigartigen Position, um die Demokratie zu definieren, zu verteidigen und auszuweiten. Der IGB unterstützt dies durch seine Kampagne “Für Demokratie“. Sie zielt darauf ab, demokratische Grundsätze und Prozesse von Grund auf zu stärken, indem sie in drei Schlüsselbereichen wiederbelebt werden: am Arbeitsplatz, in der Gesellschaft und auf internationaler Ebene. Am Arbeitsplatz konzentriert sich die Kampagne auf konkrete Rechte wie das Streikrecht, das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und das Recht auf Tarifverhandlungen. In der Gesellschaft unterstützt die Demokratiekampagne die Gewerkschaften bei der Verteidigung umfassender Grundfreiheiten und fortschrittlicher politischer Strategien in Gemeinschaften und Nationalstaaten, und im Rahmen internationalen Institutionen geht es darum, die Forderung nach einer Stimme für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei den politischen und strategischen Diskussionen auf höchster Ebene zu untermauern.
Der Zusammenhang zwischen einer Demokratie und der Stärkung der Arbeitnehmerrechte kann gar nicht genug herausgestellt werden. Wenn Beschäftigte an ihrem Arbeitsplatz Macht haben und kollektive Verhandlungen mit ihren Arbeitgebern führen können, sind die Vorteile dieser repräsentativen Macht in der gesamten Gesellschaft spürbar. In diesem Artikel wird untersucht, wie groß dieser Zusammenhang ist, indem die starken Korrelationen zwischen den Ergebnissen des Globalen Rechtsindex des IGB mit Blick auf den Zustand der Arbeitnehmerrechte weltweit und zehn Demokratieindizes aufgezeigt werden. Unsere Analyse macht deutlich, dass der Zusammenhang unbestreitbar ist: Wo grundlegende Arbeitnehmerrechte garantiert sind, ist die Demokratie im Allgemeinen stärker und nachhaltiger. Es gibt zwar Ausnahmen, aber dazu gehören Länder, in denen sich die Dinge durch zunehmenden demokratischen Druck zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verändern.
Demokratiemessungen
Der IGB hat die Ergebnisse seines Globalen Rechtsindex 2024 mit zehn Demokratieindizes von drei verschiedenen Stellen verglichen: Forschungsprojekt “Varieties of Democracy“ (V-Dem) der Universität Göteborg in Schweden, Indizes zum weltweiten Zustand der Demokratie des ebenfalls in Schweden ansässigen “International Institute for Democracy and Electoral Assistance“ und Daten der US-Initiative “Freedom House“ zur Freiheit in der Welt.
Alle zehn passten gut zu unserem Index und wiesen Korrelationskoeffizienten von 0,69 und mehr auf, wobei 0 keine Korrelation und 1 eine perfekte Korrelation bedeutet. Die beste Übereinstimmung mit einem Korrelationskoeffizienten von 0,8 ergab sich mit dem V-Dem-Index für egalitäre Demokratie, der sich auf die Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppen konzentriert. [1] Alle Länder mit dem schlechtesten Rating im Globalen Rechtsindex (5+), von denen viele von Konflikten geplagt sind, haben egalitäre Demokratiewerte von unter 0,15 (Indexbewertung von 0 bis 1). Die Länder mit dem Globalen Rechtsindex-Rating 5 weisen eine breitere Palette von V-Dem-Werten auf, aber die meisten bleiben unter 0,15, darunter China und die Golfstaaten Bahrain, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Am anderen Ende der Skala erreichen alle Länder mit dem besten Rating im Globalen Rechtsindex (1) einen Wert von über 0,7 für egalitäre Demokratie, wobei Dänemark mit 0,877 Spitzenreiter ist.
Die vier erörterten Länder sind namentlich genannt und rot gekennzeichnet. Die übrigen Ländernamen und die Zahlen für egalitäre Demokratie von V-Dem erscheinen, wenn man den Cursor über ein Land bewegt.
Was uns die Ausreißer zeigen
Wie aus der Grafik hervorgeht, gibt es einige Ausreißer, die im Globalen Rechtsindex wesentlich besser oder schlechter abschneiden als ihre V-Dem-Werte vermuten lassen. Das Vereinigte Königreich hat einen guten Wert von 0,704 für egalitäre Demokratie, aber das Rating 4 im Globalen Rechtsindex, genauso wie Brasilien, Äthiopien, Indonesien und Mexiko. Eine vom britischen Gewerkschaftsbund Trades Union Congress (TUC) in Auftrag gegebene wissenschaftliche Untersuchung belegt, dass das britische Arbeitsrecht nur halb so viel Schutz bietet wie das französische und schwächer ist als in anderen großen europäischen Ländern.[2]
Das Vereinigte Königreich scheint jedoch beweisen zu wollen, dass eine gesunde Demokratie etwas gegen unzureichende Rechte am Arbeitsplatz unternehmen kann. Im Juli hat die sozialdemokratische Labour-Partei bei den Parlamentswahlen eine große Mehrheit errungen. Sowohl in ihrem Wahlprogramm als auch in ihrer ersten Rede des Königs (der vom britischen Monarchen vorgetragenen Zusammenfassung des Regierungsprogramms) hat die Labour-Partei erklärt, dass ein Gesetzentwurf zu Arbeitnehmerrechten, der im Herbst veröffentlicht werden soll, “ausbeuterische“ Null-Stunden-Verträge sowie Entlassungen und Neueinstellungen mit schlechteren Verträgen verbieten werde. Außerdem sollen die Arbeitnehmerrechte gelten, sobald jemand eine Stelle antritt, und es ist eine Erhöhung des britischen Mindestlohns geplant.[3] Die Einzelheiten und Auswirkungen dieser Änderungen müssen im Laufe der Zeit bewertet werden, aber der Schwenk hin zu besseren Arbeitnehmerrechten ist eindeutig.
Der andere bedeutende Ausreißer mit dem Rating 4 im Globalen Rechtsindex sind die USA mit einem etwas niedrigeren V-Dem-Wert von 0,602. Seit den 1970er Jahren ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den USA auf jeden Fall rückläufig, was auf zwei Faktoren zurückzuführen ist. Der erste war eine Verlagerung der Wirtschaft von der verarbeitenden Industrie hin zu dienstleistungsorientierten Branchen, in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad traditionell niedriger ist. Dieser Rückgang wurde in den letzten Jahren durch das Wachstum der Technologiebranche und den Aufstieg der Gig-Economy noch verstärkt, was die Gewerkschaften vor die Herausforderung gestellt hat, neue Wege zu finden, um für potenzielle Mitglieder attraktiv zu werden. Ein zweiter Faktor, der sich ebenfalls in den 1970er Jahren abzuzeichnen begann, war eher politisch motiviert. Führende Politiker und Gesetzgeber wurden zunehmend gewerkschaftsfeindlich und plädierten für eine eher neoliberale, unternehmensfreundliche Politik. Diese Einstellung wurde zu einem nicht geringen Teil durch erhebliche Lobbyarbeit großer Unternehmen beeinflusst und unterstützt.
Die rückläufigen Gewerkschaftsmitgliederzahlen haben sich erheblich auf das Arbeitsleben der Menschen in den USA ausgewirkt und zu großen Lohnunterschieden sowie zu Armut trotz Arbeit geführt. Das Wiedererstarken gewerkschaftlicher Aktivitäten und die öffentliche Unterstützung für Gewerkschaften in den letzten Jahren geben jedoch Anlass zur Hoffnung. Im vergangenen Jahr hat eine Reihe gewerkschaftsfreundlicher Abstimmungen in Betrieben dazu beigetragen, die Arbeitnehmerrechte von Grund auf zu verbessern.
Die gesetzlichen Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten in den USA, einschließlich der Bestimmungen über die Anerkennung von Gewerkschaften, werden in der Regel nur langsam und mit kaum Konsequenzen für Arbeitgeber, die sie missachten, durchgesetzt. Die Nationale Arbeitsbeziehungsbehörde (National Labor Relations Board), die die Abstimmungen über die Anerkennung von Gewerkschaften in der Privatwirtschaft beaufsichtigt, hat jedoch unter Präsident Joe Biden einen gewerkschaftsfreundlicheren Kurs eingeschlagen. Im Juli hat die Behörde mitgeteilt, dass seit Oktober 2023 mehr als 2.600 Anträge auf die Abhaltung von Anerkennungsabstimmungen bei ihr eingegangen seien, mehr als in den vorangegangenen 12 Monaten. Außerdem waren 79% der Anträge erfolgreich, verglichen mit 76% im Vorjahr und rund zwei Dritteln vor einigen Jahren. Dadurch haben sich die Gewerkschaftsmitgliederzahlen stabilisiert, wenn auch auf einem niedrigen Niveau von 11% der US-amerikanischen Arbeitnehmerschaft.[4]
Bei diesen Abstimmungen gab es einige vielbeachtete Erfolge, wie etwa die Anerkennung der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) beim Volkswagenwerk in Chattanooga, Tennessee, mit 73% der Stimmen. Damit war es das erste Automobilwerk im Süden der USA, das seit den 1940er Jahren für eine Gewerkschaftsvertretung gestimmt hat, und das erste Werk in ausländischem Besitz überhaupt, das dies getan hat. [5] Im vergangenen Jahr konnte die UAW auch Vereinbarungen mit den drei großen US-Autobauern Ford, General Motors und Stellantis durchsetzen, einschließlich Verpflichtungen dazu, bestehende landesweite Vereinbarungen auf neue Produktionsbetriebe für Elektrofahrzeuge und Batterien anzuwenden, darunter auch auf GMs Ultium Cells.[6]
Einige Länder mit viel schwächeren Demokratien schneiden im Globalen Rechtsindex besser ab als das Vereinigte Königreich und die USA. Im Juli wurde Ruandas Präsident Paul Kagame mit mehr als 99% der Stimmen wiedergewählt, nachdem mehrere potenzielle Kandidaten nicht zur Wahl antreten konnten.[7] Der niedrige V-Dem-Wert von 0,183 für Ruanda überrascht daher nicht, aber das Land hat im Globalen Rechtsindex ein positiveres Rating von 3, was zentrale gesetzliche Schutzmaßnahmen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer widerspiegelt, einschließlich des Rechtes auf die Gründung einer Gewerkschaft und auf Tarifverhandlungen. Darüber hinaus schreibt das Gesetz nach 90 Tagen Beschäftigung einen Arbeitsvertrag vor, der klare Angaben zu Arbeitszeit, Gehalt, sonstigen Leistungen und Überstundenvergütung sowie zu Streitbeilegungsverfahren und zu den Pflichten sowohl des Arbeitnehmers als auch des Arbeitgebers enthalten muss. Das Index-Rating spiegelt auch die Tatsache wider, dass ruandische Beschäftigte zudem durch Kranken- und Mutterschaftsgeld sowie durch Antidiskriminierungsgesetze geschützt sind. Obwohl die grundlegenden Arbeitnehmerrechte gesetzlich geschützt sind, wird ihre Wahrnehmung jedoch durch eine breitere, durch die jüngste Geschichte des Landes beeinflusste gesellschaftliche Dynamik beeinträchtigt. So haben aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in dem Land Besorgnis darüber geäußert, dass der Spielraum für gewerkschaftliche Aktionen im Rahmen der strikten Anwendung der Gesetze, des sozialen Dialogs und des Systems für die Beilegung von Arbeitskonflikten manchmal begrenzt sei.
Singapur, wo bis November 2025 eine neue Regierung gewählt werden soll, ist ein weiterer Ausreißer. Das Land hat im Globalen Rechtsindex ein Rating von 2, gleichauf mit starken Demokratien wie Frankreich und Japan, erreicht aber nur einen Wert von 0,357 für egalitäre Demokratie und noch schlechtere Werte bei anderen V-Dem-Messungen. Der Stadtstaat wird seit Jahrzehnten von der People’s Action Party (PAP) regiert, und obwohl die Wahlen selbst weitgehend frei von Unregelmäßigkeiten sind, genießt diese Partei andere unfaire Vorteile, darunter regierungsnahe Medien, Einschränkungen der Redefreiheit und hohe finanzielle Hürden im Wahlsystem, so “Freedom House“.[8]
Singapur bietet seinen Bürgerinnen und Bürgern jedoch ein relativ hohes Maß an Freiheit am Arbeitsplatz. Es verbietet gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung und erkennt die Vereinigungsfreiheit in der Verfassung an, obwohl sie streng reguliert ist. Das Streikrecht wird im Arbeitsgesetz des Landes zwar anerkannt, aber für Beschäftigte des öffentlichen Sektors, von Krankenhäusern, Häfen und Fluggesellschaften sowie für Selbstständige sind Streiks neben anderen Beschränkungen verboten.[9]
Arbeitende Menschen treiben Demokratien an und bauen Gemeinschaften auf
Ein hohes Maß an Demokratie ist keine Garantie für Arbeitnehmerrechte, wie die schlechten Ratings sowohl des Vereinigten Königreichs als auch der USA im Globalen Rechtsindex und das rückläufige (wenn auch immer noch bessere als das der meisten) Durchschnittsrating europäischer Länder in den letzten zehn Jahren zeigen. Die Demokratie liefert Instrumente, die die Arbeitnehmerrechte verbessern können, aber es braucht nach wie vor Aktivistinnen und Aktivisten, die diese Instrumente in die Hand nehmen und einsetzen.
Wenn sie dies tun, sind sie in der Regel erfolgreich, und in den meisten Ländern ist mehr Demokratie mit besseren Rechten für arbeitende Menschen verbunden. Der Grund dafür ist einfach: Die meisten Wählerinnen und Wähler sind berufstätig. Laut Internationaler Arbeitsorganisation sind 60% der Menschen im erwerbsfähigen Alter entweder berufstätig oder arbeitssuchend.[10] Außerdem sind Erwerbstätige und Beschäftigte im Ruhestand geschätzte Mitglieder von Familien- und Gemeinschaftsnetzwerken mit Angehörigen und Personen, mit denen sie eine wechselseitige Verantwortung verbindet. In demokratischen Ländern mit allgemeinem Wahlrecht haben die Menschen klare Gründe dafür, sich für starke Arbeitnehmerrechte einzusetzen, weil sie sich dadurch selbst oder diejenigen, von denen sie abhängig sind, unterstützen.
In diesem für die Demokratie so wichtigen Jahr unterstützt die IGB-Kampagne “Für Demokratie“ die Gewerkschaften weltweit bei ihren Bemühungen um die Stärkung der Demokratie am Arbeitsplatz, in der Gesellschaft und in internationalen Institutionen. Damit wird eine klare Botschaft an Arbeitgeber, Regierungen und internationale Organisationen gesandt: dass sie unsere Interessen über Einzelinteressen stellen müssen.
[1] Aus ‘The V-Dem dataset’, V-Dem, März 2024. https://v-dem.net/data/the-v-dem-dataset/
[2] Tim Sharp, ’UK needs massive workers’ rights boost to match global norm’, Trades Union Congress (Vereinigtes Königreich), 2. August 2024. https://www.tuc.org.uk/blogs/uk-needs-massive-workers-rights-boost-match-global-norm
[3] Büro des Premierministers, ’Ten things to know from the King’s Speech’, GOV.UK (offizielle Webseite der britischen Regierung), 17. Juli 2024. https://www.gov.uk/government/news/ten-things-to-know-from-the-kings-speech
[4] Daniel Wiessner, ’US union organizing, and unions’ election win rate, is surging, NLRB says’, 17. Juli 2024: https://www.reuters.com/legal/litigation/us-union-organizing-unions-election-win-rate-is-surging-nlrb-says-2024-07-17/
[5] Tom Krisher and Kristen Hall, ’Tennessee Volkswagen employees overwhelmingly vote to join United Auto Workers union’, Associated Press, 20. April 2024. https://apnews.com/article/volkswagen-union-vote-united-auto-workers-chattanooga-51544590d8a06efddfa2f6ac7db00fbe
[6] ’Ultium members vote 98% to ratify contract that sets new standard for EV industry’, United Autoworkers, 17. Juni 2024. https://uaw-newsroom.prgloo.com/press-release/video-ultium-members-vote-98-percent-to-ratify-contract-that-sets-new-standard-for-ev-industry
[7] ’Rwanda’s Kagame wins fourth term with 99.18% of the vote, provisional results show’, France 24, 18. Juli 2024. https://www.france24.com/en/africa/20240718-rwanda-s-kagame-wins-fourth-term-with-99-18-of-the-vote-provisional-results-show
[8] ‘Singapore’, Freedom in the World 2024, Freedom House. https://freedomhouse.org/country/singapore/freedom-world/2024
[9] ‘Singapur’, IGB. https://survey.ituc-csi.org/Singapore.html?lang=de
[10] S. 27, ‘World employment and social outlook trends 2024’, Internationale Arbeitsorganisation. https://www.ilo.org/publications/flagship-reports/world-employment-and-social-outlook-trends-2024